Am 2. November erschüttert ein Terror-Anschlag die österreichische Hauptstadt. Ab Mitternacht gilt eigentlich der zweite Lockdown. Bars und Restaurants müssen für einen Monat schließen. Nun aber stecken viele Menschen in den Lokalen in der Innenstadt fest. Sie müssen warten, während die Polizei ihre Arbeit leistet.

Doch nicht nur sie, auch all jene, die sich nicht zu dem Zeitpunkt der Tat im ersten Bezirk befinden, sind angespannt und warten auf weitere Informationen. Freunde werden angerufen. Auf Social Media werden Nachrichten geteilt, die nicht immer richtig ist und Videos, die da nichts verloren haben. Angst macht sich breit. Wien steht unter Schock.

„Bist du eh daheim?“

Es ist der 2. November 2020. Ich bin müde. Das Jahr hat sich durch meinen Körper und in meine Psyche gebohrt, es umschlingt meine Lungen und hält mein Herz in eisernem Griff. Morgen gelten wieder Ausgangsbeschränkungen. „Nur noch zwei Monate“, denke ich mir, als ich von der Arbeit nach Hause komme und überlege zynisch: „Schlimmer kann 2020 jetzt auch nicht mehr werden.“ Ich schließe genervt die neue, schwere Eingangstür meines Wohnhauses auf. Der Eingang ist noch nicht fertig. Seit Anfang des Jahres ist das Haus eine einzige Baustelle. Ich hoffe nur, dass während des zweiten Lockdowns nicht gebohrt wird. Ich bin Wienerin. Ich war immer schon grantig. 2020 hat das aber ein neues Level erreicht.

Ich möchte meinen Kopf lüften und überlege einen Stadtspaziergang zu machen. Wien gilt als eine der sichersten Städte der Welt. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wenn ich alleine durch die Innenstadt spaziert bin. Ich bin Wienerin, ich lebe im ewigen Grant, nicht in ewiger Angst. Meine Wohnung ist unaufgeräumt als ich sie betrete, ich entscheide mich, keinen Spaziergang zu machen und aufzuräumen. Kurze Zeit später schreibt mir meine Schwägerin: „Bist du eh daheim?“. Ich öffne WhatsApp und sehe, dass sie mir einen Screenshot von Twitter geschickt hat. Es ist ein Tweet der Polizei Wien: „Im Bereich der Inneren Stadt kam es zu mehreren Schusswechseln. Es gibt mehrere verletzte Personen.“ „Betrunkene? Eine Gang?“, überlege ich noch recht naiv.

„In was für einer Zeit leben wir?“

Ich bin etwas alarmiert, aber lege mein Handy wieder weg. Kaum hat es meine Hand verlassen, kommt schon die nächste Nachricht. „Bist du zu Hause?“, fragt eine Freundin. Ich glaube, sie will kurz vorbeischauen, nehme das Handy und will ihr zurückschreiben. Da ruft mich plötzlich eine weitere Freundin an. „Emily, bist du daheim?“, fragt Julia. Ich merke an ihrer Stimme, dass etwas nicht stimmt. Diesmal ziehe ich den Zusammenhang zu den Schüssen im ersten Bezirk, springe vom Sessel und antworte sofort: „Ja klar, komm vorbei“. Ich denke, sie ist in der Innenstadt unterwegs, hat etwas gesehen und braucht Unterstützung. Sie beruhigt mich, erklärt sie ist zu Hause. Sie war nicht dort, sie versteht nur die Welt nicht mehr. „In was für einer Zeit leben wir?“, fragt sie mich. Ich atme ein, setze an, um zu antworten, aber merke, dass ich es nicht kann.

„Das kann nicht wahr sein“

Julia sitzt zu Hause. Sie scrollt durch ihr Handy. Plötzlich bekommt sie eine Push-Nachricht von WhatsApp. Ein Freund hat ihr ORF-Beiträge geschickt. Julia denkt sich nichts dabei, öffnet sie und versteht die Welt nicht mehr. „Das kann nicht wahr sein, ist das ein Scherz?“, fragt sie sich, sucht nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher an. Die Nachrichten bringen noch nicht viel Information. Sie macht sich Sorgen und beginnt Freunde und Familie anzurufen. Einer ihrer Anrufe bin ich. Mittlerweile ist Julia schon sehr aufgewühlt. „Emily bist du daheim?“, fragt sie mich. Und danach: „In was für einer Zeit leben wir?“

„Wie geht es euch?“

Ich kann Julias Frage nicht beantworten. Ich frage mich genau dasselbe. Wir reden uns gegenseitig gut zu, drücken unsere Fassungslosigkeit aus, beschließen uns später wieder anzurufen und legen auf. Jetzt schalte auch ich die Nachrichten an, mache Instagram auf und sehe verschiedenste Spekulationen. Ich klicke auf Videos, deren Inhalte ich eigentlich nicht sehen wollte.

Ich werde unruhig und fange auch an, Freunden und Familie zu schreiben: „Bist du daheim?“. Ich bin froh, dass fast alle in ihren Wohnungen sind. Doch plötzlich wird mir klar, dass das nicht bedeutet, dass es ihnen gut geht. Mir geht es nicht gut. Die Anspannung des ganzen Jahres hat mich geschwächt, meine Psyche, meinen Körper und das, was jetzt passiert, ist schwer auszuhalten. Also fange ich an, zu fragen: „Wie geht es euch?“ Ich frage auch in einem Gruppenchat mit einigen Freundinnen, ob alles in Ordnung ist. Die meisten schreiben gleich zurück. Nur Lena schreibt erst 40 Minuten später: „Ich spaziere in aller Ruhe durch die halbe Stadt, komme heim – 30 Anrufe in Abwesenheit“.

„Alles ist ruhig“

Seit der Corona-Pandemie sind Spaziergänge für Lena heilig. „Wenigstens ist meine Umgebung noch schön, alles ist ruhig. Man hat in der Innenstadt auch immer dieses erhabene Gefühl, dass diese Häuser, die da ewig stehen, unantastbar sind“, erklärt sie. Sie geht gerne durch die Straßen in Wien. Unsicher fühlt sie sich nie. Sie ist fünf Minuten von ihrem Haus entfernt, als sie erfährt, dass es Schüsse in Wien gegeben hat. Sie hat mit einer Freundin telefoniert und alle Anrufe ignoriert. Zu Hause angekommen, schreit ihre Mitbewohnerin sie an, wo sie gewesen sei. Lena wird bewusst, wie ernst die Situation ist. „Wien ist so eine kleine Stadt. Jeder war schon einmal am Schwedenplatz. Jeder war schon öfters im ersten Bezirk spazieren“, erklärt sie ihre Fassungslosigkeit. Den Rest des Abends verbringt sie vor den Nachrichten mit einer Tasse Tee.

„Bin am Praterstern in einem Lokal“

Ich schreibe fast jedem, der mir in den Sinn kommt und der irgendwie auch nur in der Nähe der Inneren Stadt hätte sein können. Nur meinem Bruder schreibe ich nicht. Er hat zwei kleine Kinder. Er ist immer zu Hause, er ist auch jetzt bestimmt zu Hause – oder? Ich will auf Nummer Sicher gehen und frage nach. Er schreibt zurück: „Nein. Bin am Praterstern in einem Lokal“. Ich glaube es ihm zuerst nicht. Dann denke ich mir, wieso sollte er darüber einen Scherz machen.

Der Praterstern ist 16 Minuten von den Geschehnissen entfernt. Ich weiß, dass die Menschen in der Innenstadt mittlerweile dazu angehalten sind, in den Lokalen zu bleiben. Ich werde unruhig. Ich bitte meinen Bruder, mich am Laufenden zu halten. Er kann kurze Zeit später mit dem Taxi heimfahren. Zum Glück war er am Praterstern. Ein paar Stunden zuvor hatte sein Freund Christoph ihn gefragt, ob er mit in ein Lokal in der Vorlaufstraße 2 möchte.

„Auf einmal höre ich ein Knallen“

Christoph ist mit seiner Freundin und zwei Freunden in einem Lokal in der Vorlaufstraße in der Nähe vom Schwedenplatz. Sie wollen noch den letzten Abend vor dem Lockdown genießen. Kurz vor 20 Uhr zahlen sie. „Wir sind dann hinausgegangen und haben vor dem Lokal noch gequatscht“, erzählt der Wiener. „Auf einmal höre ich ein Knallen. Ich schaue um mich herum und denke: ‚Wer schießt das Feuerwerk“? Beim vierten und fünften Mal wurde er stutzig. „Für mich war es dann relativ eindeutig, dass es Schüsse waren, weil sie sehr schnell hintereinander abgefeuert wurden“. Dann scheint es so, als würde sich die Gefahr entfernen.

Die Gruppe ist kurz erleichtert. Doch dann kommen die Schüsse wieder näher. Sie entscheiden sich, lieber schnell das Weite zu suchen. Christoph und seine Freundin trennen sich von den anderen beiden und gehen in Richtung U-Bahn zu ihrem Motorroller. Auf ihrem Heimweg bleiben sie kurz stehen und fragen Passanten, was los sei. Irgendwer erwähnt etwas von Schüssen. „Wir fahren dann weiter Richtung Salztor hinunter und ich drehe mich zu meiner Freundin um und frage sie, ob sie das auch riecht. Es riecht, als hätte jemand Schüsse abgegeben“. Sie fahren an Blaulicht vorbei und bekommen die Schüsse mit, die offenbar zwischen Polizei und dem Täter abgegeben werden. Zu Hause angekommen fühlt er sich aufgeregt. Er schaltet den Fernseher ein und sieht, was er gerade erlebt hat.