In Österreich ist jede fünfte Frau – also 20 Prozent der Frauen – ab ihrem 15. Lebensjahr körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Jede dritte Frau hat seit diesem Alter eine Form von sexueller Belästigung erfahren. Der Großteil der sexuellen Gewaltverbrechen passiert zwischen Menschen, die einander kennen, nicht vergessen werden dürfen aber auch die Fälle, die sich vor unseren Augen in Ubahn, Kaffeehaus oder Club abspielen. Als Betroffene ist man oft erstarrt, Außenstehende wissen sich oft nicht zu helfen. Wie kann ich mich verhalten, wenn ich belästigt werde und wie kann ich anderen Frauen helfen, wenn ich Zeugin von Gewalt werde? Wir haben mit Christine Bodendorfer, Psychotherapeutin und Mitbegründerin der Mädchenberatung, über das heikle Thema gesprochen.

„Aufgabe des Staates ist es, Bewusstsein für Gewalt im öffentlichen Raum zu schaffen“

Welche Fälle kommen besonders häufig vor, wenn man an Gewalt im öffentlichen Raum denkt?

Speziell wenn wir an sexuelle Gewalt denken, sexuelle Belästigung wahrscheinlich häufiger als tatsächliche Vergewaltigung. Prinzipiell ist noch dazu zu sagen, dass im öffentlichen Raum das Wenigste vorkommt. Das Meiste ist im privaten Bereich, also Beziehungsdelikte/taten. Gerade das ist wesentlich häufiger im privaten, als im öffentlichen Raum.

Wie kann ich dem prinzipiell rechtlich nachgehen, wenn ich z.B. den Täter überhaupt nicht kenne?

Es ist möglich die Tat anzuzeigen. Sexuelle Belästigung und sexuelle Nötigung ist eine Straftat, zwar noch nicht so lange, aber es ist jetzt eine Straftat, die man auch anzeigen kann. Wenn ich jemanden anzeigen möchte, macht es Sinn, sich vorab an eine spezielle Beratungsstelle zu wenden, die Prozessbegleitung anbietet. Denn jeder Mensch, der Opfer eines Gewaltverbrechens ist, hat Anspruch auf eine psychosoziale und juristische Prozessbegleitung.

Wie sieht es erfahrungsgemäß mit den Chancen auf eine Verurteilung aus, bei einem unbekannten Täter?

Es kann natürlich sein, dass es nicht zu einer Verurteilung kommen kann, da ich die Person, ihren Namen und Identität nicht kenne. Allgemein sind – auch bei bekannten Tätern – die Verurteilungen bei Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmtheit eher selten. Dennoch macht eine Anzeige Sinn, weil ich mich in der Situation vielleicht nicht so adäquat verteidigen konnte, wie ich mir das gewünscht hätte oder wie es überhaupt möglich war. Das kann ich dann im Nachhinein ermöglichen, in dem ich hier eine höhere Gewalt wie z.B. die Polizei oder den Rechtsstaat einschalte. Das kann auch für die eigene Psychohygiene gut sein, zu wissen, dass man sich auf dieser Ebene wehrt und dass es möglich ist.

Das heißt, eine Anzeige kann mir helfen, damit abzuschließen – egal ob eine Verurteilung folgt oder nicht?

Naja, das ist auch verschieden. Letztlich ist zu sagen, dass eine Anzeige auch ein Stück Belastung ist und deswegen gibt es ja kostenlose psychosoziale und juristische Prozessbegleitung, um das ein bisschen abzufedern. Am besten ist es, sich an eine Beratungsstelle zu wenden noch bevor man zur Polizei geht.

Ein Beispiel: Ich gehe auf der Rolltreppe, ein fremder Mann greift mir auf den Hintern. Mehrere Leute sehen es, aber keiner hilft mir und keiner sagt irgendwas. Was kann ich in dieser Situation tun?

Wenn ich das kann, ist es gut zu schreien und die Person zurechtzuweisen und möglichst laut zu sein. Das macht natürlich Sinn, weil die anderen Menschen dadurch auch aufmerksam werden und sich die Person ertappt fühlt. Und nicht nur ertappt fühlt, sondern auch ertappt und öffentlich bloßgestellt wird. Das Öffentlichmachen macht natürlich Sinn. Es ist halt die Frage, ob das für mich möglich ist.

Natürlich gibt es in so einer Situation keine „richtige“ Verhaltensweise. 

Genau. Man kann hier keinen Betroffenen einen Leitfaden geben, denn was tun dann die Betroffenen, die das nicht schaffen? Sie fühlen sich dann schuldig, als hätten sie versagt. Dabei gibt es hier kein „richtig“ oder „falsch“. Es muss klar gesagt werden, dass es Aufgabe des Staates ist, einzugreifen. Je mehr angezeigt wird, desto deutlicher ist das Zeichen an den Rechtsstaat, dass das kein Kavaliersdelikt ist.

Aber kann ich mich eigentlich wehren, wenn ich mich körperlich unterlegen fühle?

Naja, in dem Moment wo ich schreie, nehme ich mir die Macht zurück, denn da schauen die Leute schon. Wenn ich erstarre und völlig schockiert bin, dann bleibe ich in der Ohnmacht stecken. Frauen wurde leider eingebläut, ruhig zu sein und in der Öffentlichkeit nicht laut oder ausfällig zu werden. Deshalb macht es schon Sinn, solche Situationen zu üben. Wie beim Feueralarm, wenn ich eine Extremsituation häufig übe, tue ich mir in der Situation leichter.

Also halten Sie es für sinnvoll, wenn man sich bestimmte Phrasen vorbereitet und sich auf diese Situationen vorbereitet?

Ja, das halte ich schon für sinnvoll. Wir wissen auch aus der Hirnforschung, dass wenn ich Dinge sehr oft mache, ich es internalisiere, mehr einlerne und es dann automatisch kommt.

Und auch Selbstverteidigungskurse?

Ja natürlich. Es gibt gute feministische Selbstverteidigungskurse, in denen Frauen miteinander in das lustvolle Kämpferische kommen. Bei vielen Frauen gibt es nämlich so etwas wie eine Schlaghemmung, weil sie das Kämpfen einfach nicht so gewohnt sind wie die Burschen. Das ist dann eine Übungssache. Und wenn ich als Kind dieses lustvolle Raufen und Kämpfen betreibe, dann werde ich es lernen. Ganz ohne Angst, sondern im Sinne – das mache ich und das macht mir auch Spaß und dann kann ich es auch im Notfall.

Wenn ich aber nicht selbst betroffen bin, sondern Zeuge davon werde, wie eine andere Frau begrapscht wird oder in eine unangenehme Situation gedrängt wird – Was kann ich tun?

Natürlich könnte ich als Zeugin einschreiten und fragen, ob ich helfen kann. Wenn sie dann sagt „Nein, das ist mein Freund, wir streiten uns nur“, dann könnte man sich wieder zurückziehen. Es könnte aber sein, dass sie das Angebot sehr gut annimmt. Das „nicht einmischen“ halte ich für nicht so gut, natürlich bedenkend, dass ich auch meine persönliche Sicherheit wahren muss. Allgemein ist Gewalt im öffentlichen Raum keine Privatsache.

Und wenn ich mich in der Situation nicht traue einzugreifen?

Dann muss man die Polizei anrufen.

Gibt es Situationen, wo Sie auch als Außenstehende sagen würden, dass man da auf keinen Fall eingreifen sollte?

Ich glaube, dass es immer gut ist die Polizei anzurufen, wenn man das Gefühl hat, man begibt sich selber in Gefahr oder man traut sich einfach nicht. Aber gar nichts zu tun und wegzuschauen, das wäre auch nicht in Ordnung. Im Sinne von Zivilcourage ist es auch super die Polizei zu rufen und zu sagen „Ich beobachte gerade einen Übergriff, bitte kommen Sie sofort!“

Kann man Zivilcourage lernen? Fehlt sie vielen Menschen heutzutage?

Man kann alles lernen. Ich kann auch schon den Kindern beibringen, dass man sich einsetzen soll und eingreifen soll, in dem man hingeht oder die Polizei ruft, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Das ist etwas, das eine Gesellschaft mitprägt oder eben nicht.

Die Mädchenberatung bietet Unterstützung bei der Krisenbewältigung, psychische und juristische Beratung, sowie Prozessbegleitung für Frauen und Mädchen an. Alle Infos findet ihr auf maedchenberatung.at.