Können Affirmationen und das richtige Vision Board zu einem perfekten Leben führen? Wenn es nach dem Tiktok-Trend #luckygirlsyndrome geht, scheint das möglich zu sein.

Doch ein Blick hinter die ­Ku­lissen zeigt: Der Weg zum „Lucky Girl“ birgt einige Hindernisse – und viel Arbeit.

I should be so lucky …

„Ich fühle mich so glücklich und weiß, dass alles zum richtigen Zeitpunkt zu mir kommt.“ Mit dieser Affirmation startet Jade jeden Morgen in den Tag. Die 24-jährige Französin ist ein selbst ernanntes „Lucky Girl“ – sie gehört also zu jenen Influencerinnen auf Tiktok, die mit dem Hashtag #luckygirlsyndrome zeigen, wie sie mithilfe von Affirmationen ihr Leben verändert haben und jetzt zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen. Ihr wisst schon, jene Menschen, denen die guten Dinge scheinbar aus dem Nichts zufliegen; die, die alles mühelos schaffen und das perfekte Leben führen.

Sie verwirklichen ihre Träume, haben den perfekten Freundeskreis und wirken stets tiefenentspannt. Es ist ein Leben, das für Aufsehen sorgt – denn der Hashtag #luckygirlsyndrome verzeichnet auf Tiktok mittlerweile mehr als 500 Millionen Aufrufe – und einfach jede:r will wissen, was das Geheimnis der Lucky Girls ist.

Tägliche Affirmationen: Der Schlüssel zum Glück?

Für Jade liegt die Antwort auf diese Frage in einem Schlüsselerlebnis vor sechs Jahren. Damals fing sie an, sich für das Law of Attraction zu interessieren. „Es passiert so viel auf anderen Ebenen, seien es Emotionen, Gedanken, Verbindungen mit Menschen, mit Orten, mit Dingen, mit Er­­eignissen, mit allem Möglichen. Das Leben ist ein riesiges Puzzle und ich dachte damals, dass es einige Teile gibt, die fehlen“, erinnert sie sich. Affirmationen sollten helfen, diese Lücke zu füllen.

Doch anfangs kamen Jade die lebensbejahenden Sätze albern vor. „Ich habe mir gesagt: ‚Ich bin Jade und ich liebe mich selbst‘ – und dachte mir nur: ‚Das ist so dumm, wenn ich mir das selbst vor dem Spiegel sage!‘“ Vor etwa eineinhalb Jahren gab sie dem Thema jedoch erneut eine Chance und begann, eine neue Affirmation konsequent täglich aufzusagen. Dabei entdeckte sie, dass sich wirklich etwas veränderte: „Du fühlst dich kreativer, vertrauensvoller und deine ganze Energie wandelt sich. Du fängst an, andere anzuziehen“, erklärt Jade ihre Veränderung. „Ich habe dadurch sowohl in meinem Berufs- als auch in meinem Privatleben erstaunliche Menschen kennengelernt.“

@wellnessbyjade Powerful affirmations to manifest anything you want besties !!💖🦋🥂 #affirmantions #lawofattraction #lawofassumption #1111 #universe #manifestyourdreams #energy ♬ original sound – hothighpriestess 🧿🤍

Das perfekte (Pinterest)-Leben

Diesen Lebenswandel kann sie jetzt mithilfe des #luckygirlsyndrome für ihre Community aufbereiten, die seit dem Aufkommen des Hashtags immer größer wird. Auf Tiktok hat sie mehr als 390.000 Follower:innen, denen sie unter anderem „zehn Essentials“ für ein glückliches Leben verrät. Sie stellt ihnen Listen mit Affirmationen für Lucky Girls zusammen und gibt in Videos Einblicke in ihren Alltag in Paris. Dazu gehören natürlich Yoga­stunden, Matcha am Morgen und ästhetische Skincare-Routinen.

Jade zeigt online ein Leben, wie wir es wohl von vielen Pinterest-Boards kennen. Um ebendiesen Lifestyle zu erzielen, hat die 24-Jährige, die nebenbei auch als Yogalehrerin und Life Coach arbeitet, einige unterschiedliche Ansätze. Da wären zum einen natürlich die täglichen Affirma­tionen; zusätzlich dazu führt sie Tagebuch und schreibt Briefe an sich selbst, in denen sie ihre Ziele ausformuliert. Und dann wäre da noch das Manifestieren: Jade verpackt ihre Ziele in Vision Boards, auf denen all die Dinge Platz finden, die sie im Leben erreichen will. Mal ist das Geld, mal Liebe und ein anderes Mal Erfolg im Beruf.

Kann ich mir mein Leben schönreden?

Aber können positive Mantras und ein bisschen Journaling wirklich zu einem perfekten Leben verhelfen? Ganz so einfach ist es nicht, verrät die Psychotherapeutin Ines Gstrein. Denn nur, weil man sich selbst positive und selbstbejahende Dinge einredet, heißt das noch lange nicht, dass diese auch für eine positive Lebenseinstellung sorgen. Affirmationen „können den Blick beziehungsweise die Einstellung eines Menschen auf die Welt oder auf sich selbst unter anderem positiv beeinflussen“, erklärt Gstrein. „Jedoch gilt es hier zu differenzieren: Die Affirmation muss annähernd glaubhaft beziehungsweise von der Person annehmbar sein, ansonsten kann sie den gegenteiligen Effekt haben.“

Auch Studien haben ihr zufolge bereits bewiesen, dass Affirmationen bei Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl sogar in die gegenteilige Richtung gewirkt haben. Eben deshalb sei es auch nicht vorrangig, positiv mit sich selbst zu sprechen, sondern ehrlich mit sich selbst zu sein! „Wenn ich traurig bin, dann ist es wichtig und auch gesund, traurig sein zu dürfen. Gefühle gehen immer vorbei“, betont Gstrein. Denn wer sich das nicht vor Augen führt, könnte in die Falle der Toxic Positivity tappen.

Das passiert, „wenn das Leben mit seinen guten, aber eben auch negativen Seiten nur noch einseitig gesehen wird; wenn alles Negative ausgeblendet und unterdrückt wird“, erklärt die Expertin. „Unterdrücken wir negative Gefühle, dann entwickeln wir eine ‚Numbness‘ und fühlen letztlich gar nichts mehr, auch nicht die positiven Gefühle.“

Der Druck der immer gleichen Bilder

Auch Jade betont, dass nicht alle Aspekte des #luckygirlsyndrome wirklich so lucky sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen – denn wie viele andere Social-Media-Lifestyletrends lebt auch dieser von den immer gleichen Bildern und Routinen. Jade kritisiert, dass diese Bilder Druck auslösen können, denn sie vermitteln den Eindruck, dass man nur ein Lucky Girl ist, wenn das eigene ­Leben genauso aussieht wie bei den anderen. Eng verbunden mit dieser stereo­typen Idealvorstellung ist auch der Aspekt der Privilegien: Die meisten Lucky Girls, die auf der Plattform erfolgreich sind, sind junge, weiße und schlanke Frauen.

Sie leben einen Lifestyle, der für die meisten von uns nicht möglich ist – nicht jede:r kann es sich leisten, den Tag mit einem teuren Green Juice zu starten, auf luxuriöse Retreats zu fahren oder jeden Abend instagramtaugliche Clubs zu besuchen. Wir haben schlichtweg nicht alle die gleichen Voraussetzungen, um ein Leben in Wohlstand zu genießen, da helfen wohl auch die stärksten Affirmationen nicht. Diese Insze­nierungen als Ideal zu sehen kann deshalb schnell toxisch werden, betont auch Jade: „Wir ver­suchen immer, besser zu sein, mehr zu haben, jemand zu werden – und wir vergessen dabei ­völlig, wer wir jetzt sind.

Deshalb sage ich immer: Die beste Version von dir ist die, die du heute bist. Jade weiter: „Man kann nicht von einem Leben ohne Routinen zu dieser verrückten Morgenroutine übergehen, in der man Tagebuch führt, Yoga macht und, und, und. Das ist überwältigend für das Gehirn und es wird nicht funktionieren.“

Hinter den Kulissen eines Lucky Girls

Sich selbst verbessern zu wollen sei zwar ein natürliches Bedürfnis, doch man müsse darauf achten, sich realistische Ziele zu setzen. Als Creator setzt Jade deshalb auch auf Inspiration mit Realitätschecks: Sie postet Videos, in ­denen sie von schwierigen Lebensphasen spricht, und zeigt, dass nicht jeder Tag im Leben eines Lucky Girls voller Glück ist, sondern manche auch von Stress geprägt sind. So räumt sie auch mit einer Annahme auf, die wohl viele bei dem Hashtag haben; denn wer denkt, dass Lucky ­Girls für ihr Glück nichts tun müssen, liegt falsch. Hinter den perfekten Fotos, Erfolgen und Highlights steckt nämlich jede Menge Arbeit! Das betont auch Jade. Zum einen ist da die Arbeit an sich selbst: Journaling und Co helfen der 24-Jährigen, mit ihren Emotionen im Reinen zu sein.

Glück allein reicht nicht

Sie nennt es eine anstrengende Arbeit, die sie aber als Investition in ihre mentale Gesundheit sieht. Zum anderen ist da aber auch die Arbeit am Lucky-Girl-Image und damit an Jades Karriere. Wie sehr diese von aktivem Handeln abhängig ist, schildert sie anhand eines Beispiels: Im Dezember 2021 manifestierte Jade 100.000 Follower:innen auf Tiktok. Sie schrieb dies plakativ in ein Tagebuch und vergaß den Vorsatz, bis kurz vor Silvester ein Video von ihr viral ging und ihr plötzlich 175.000 Follower:innen verschaffte. Alles die Macht des Lucky Girls? „Nein“, versichert Jade.

Denn in der Zeit zwischen dem Tagebucheintrag und dem viralen Hit steckte sie unzählige Stunden Arbeit in ihre Videos und postete regelmäßig. „Hätte ich den Satz nur geschrieben und nichts getan, ich bin mir nicht sicher, ob es funktioniert hätte“, so Jade. „Aber ich habe in mich selbst investiert und es hat sich gelohnt.“ Auch Jade weiß also: Manchmal muss man dem eigenen Glück ein bisschen nachhelfen.

@wellnessbyjade freeze response mode activated – kinda experiencing a 2nd spiritual awakening – trying to focus on me – listening to my need – putting myself first – slow energy #healingjourney #selflove #mentalhealth ♬ original sound – ADVNCE