Pfiffe an der Rolltreppe, untergriffige Bemerkungen auf der Straße und ungefragte Dick-Pics auf Tinder – viele von uns Frauen kennen das Spiel. Leider. Grund genug, einen Selbstversuch zu wagen: Unsere Redakteurin hat den Spieß umgedreht und ausprobiert, wie Männer auf Catcalling und sexistische Anmachen reagieren. 

„Sexistisch zu sein ist so peinlich“

Ich kann nicht glauben, dass das tatsächlich gerade aus meinem Mund raus gekommen ist. So ein typischer Pfiff, wie man ihn aus dem „Bow chicka wow wow“-Klingelton von früher aus dem ­­Jamba-Sparabo kennt. Tatsächlich habe ich gerade einer Gruppe von Bauarbeitern im Vorbeigehen zugepfiffen. Und ich lege noch einen drauf: „Schade, dass heute nicht die Sonne scheint. Würde mich ja interessieren, was sich unter eurer Arbeitskluft so verbirgt“, sage ich betont lässig mit einem Augenzwinkern, das meiner Nervosität und meinem Unbehagen nach zu urteilen wohl eher nach Schlaganfall ­aussehen muss. „Habe ich das gerade wirklich gesagt? Fuck. Sexis­tisch und diskreditierend zu sein ist richtig peinlich!“, denke ich und merke, wie ich hochrot anlaufe. Okay, okay: Bevor ihr jetzt denkt, die miss hat sich in eine Sexismus-Bibel mit Pick-up-Artist-Schrott und Tipps, wie man Männer möglichst diskreditierend anmacht, verwandelt, lasst mich das erklären. Das Verhalten fühlte sich für mich nämlich genauso widerlich an, wie sich das jetzt liest – wenn nicht schlimmer. Wozu also das Ganze?

93 Prozent der miss-Leserinnen waren bereits mit sexistische Anmachen konfrontiert

Ihr kennt das alle: Pfiffe, als ob man ein Vierbeiner wäre, ungefragte Bemerkungen, unseren Körper betreffend, von fremden Männern auf der Straße, sexis­tische Anmachen. Um genaue Zahlen zu nennen, ist so ein Verhalten von Männern laut einer Umfrage in der ­missAPP 93 Prozent von euch Leser­innen schon untergekommen – und auch der internationale Durchschnitt bewegt sich in ähnlichen Höhen. Laut der größten internationalen Studie zum ­Thema Belästigung von der Anti-Harassment Group iHollaback und der Cornell University haben 84 Prozent aller Frauen noch vor ihrem 17. Geburtstag Catcalling erlebt. Der Stop Street Harassment Report gibt dieser Studie recht und  definiert noch genauer: 77 Prozent der Frauen bekamen auf der Straße schon Kussgeräusche zu hören, 82 Prozent vulgäre Gesten zu sehen, 95 Prozent der Frauen wurden schon einmal mit eindeutigem Hintergrund angehupt oder gecatcallt und 87 Prozent bekamen schon mehrmals sexistische und diskreditierende Anmachen zu hören. So auch ihr Leserinnen: Die Einsendungen zum Thema diskreditierende Anmachen in der missAPP sind schockierend: Von „Siehst eh ganz gut aus; hörst du wahrscheinlich nicht so oft“, über „Siehst eh ganz okay aus, aber lächel doch mal“ bis „Die größten Brüste hast du ja nicht, aber keine Sorge: Daheim werde ich mich ganz auf deinen Arsch konzentrieren“ ist alles dabei. Viele von euch schreiben auch nur: „Hinterherpfeifen, als würde man eine Katze locken wollen. Es nervt!“  Klassisches Catcalling also, wie der Begriff schon sagt. Ein sexistisches Phänomen, das hauptsächlich in der Männerwelt Anwendung findet. Und da geht es jetzt gar nicht um eine Opfer­rolle, sondern es ist statistisch belegt, was wir aus Erfahrung leider kennen: Bei den eben genannten Statistiken sind die Werte bei Männern – also wie oft Männer solche Belästigungen schon über sich ergehen lassen mussten – in den verschiedenen Kategorien ein Bruchteil von jenen der Frauen und maximal (!) halb so hoch. Aber denken Catcaller echt, ungefragtes Angrapschen, sexistische Bemerkungen und Pfiffe seien zielführend? Glauben manche echt, wir fänden das toll? Und: Wie toll finden sie es  eigentlich, wenn man den Spieß mal umdreht? Fragen, deren Antworten ich hoffentlich mit einem Selbstversuch näher komme …

„Ich habe Typen hinterher gepfiffen und geschaut, wie sie reagieren“

Angesichts der oben genannten Statistiken ist es wenig überraschend, dass Frauen weniger Ahnung vom Praktizieren von Catcalling haben als Männer – so auch ich. Ich frage also erst mal eine Freundin, ob sie mich beim Selbstversuch unterstützt und mir bei meinen diskreditierenden Anmachen beisteht. „Spinnst du? Weißt du, wie peinlich das ist?!“, sagt sie mir empört ab. Nach drei weiteren Absagen meiner Freundinnen akzeptiere ich: Da muss ich wohl alleine durch – und alleine die Tat­sache, wie unangenehm der Gedanke daran, sexistische Bemerkungen zu machen, für Frauen ist, zeigt, wie wichtig das Thema und Aufklärung rund um Sexismus immer noch sind. Ob ein Selbstversuch hier der richtige Ansatzpunkt ist, sei dahingestellt, aber spannend ist es allemal. Und unangenehm. Also lieber schnell hinter mich bringen, denke ich. Ich starte damit, Männern, die mir auf der Rolltreppe entgegen­kommen, ­hinterherzupfeifen. Wage ich (mit meinem hoch­roten Schädel) danach einen Blick über die Schulter, ernte ich zunächst nur Lächeln und wohlwollende Blicke. Obwohl ich mehrmals pfeife und Männern Miez-Geräusche zuwerfe, als würde ich meinen Kater locken wollen, wird es nicht angenehmer. Aber: hilft nix! Der nächste Schritt ist die eingangs geschilderte Szene mit den Bauarbeitern, die momentan in der Gasse werken, wo meine Wohnung ist. Eine stereo­type Situation und mit entsprechender Rollen­umkehr ideal für meinen Selbstversuch.

Nach Pfiffen klopfe ich diesmal auch noch Sprüche, die viele von uns schon selbst zur Genüge zu hören bekommen haben. Nach einem Augenzwinkern und dem eingangs erwähnten Spruch mit der Sonne und der Arbeitskluft wage ich auch hier einen Blick über die Schulter und in die Augen der eben Angesprochenen. Geschmeichelte Blicke. Ich schnappe auf, wie einer zu seinem Kollegen sagt: „Na, dass uns das mal passiert, hätt’ ma uns auch ned ’dacht, was?“ Das ist mein Stichwort. Ich drehe um und beginne ein Gespräch. Ich stelle mich vor, kläre die Herren über meinen Selbstversuch auf und frage nach: „Habt ihr so eine Situation schon mal erlebt? Wie fühlt sich das an?“ Harald, 27, erklärt mir, dass er sich eher geschmeichelt fühlt, weil er so etwas in dieser Form noch nie erlebt hat, und gibt zu: „Auch ich habe schon mal Frauen hinterhergepfiffen oder einen lockeren Spruch auf den Lippen gehabt. Aber das ist halt so ein Männerding bei uns auf der Baustelle!“ Soso, ein Männerding. Ob er denkt, dass Frauen das cool finden, frage ich. „Na ja, ich habe mich jetzt schon gefreut – also ­warum nicht?“  Ich starte einen Erklärungsversuch: „Vielleicht fühlt es sich für dich erst mal gut an, weil es dir noch nie zuvor passiert ist. Kannst du dir vorstellen, dass es nervig und belästigend wirken kann, wenn man als Frau regelmäßig in solche Situationen kommt und man völlig ungefragt Kommentare zum eigenen Körper bekommt?“ Er überlegt. „Hm. Ja, schon. Aber das ist ja nichts Negatives, sondern eher ein Kompliment.“ – „Was aber, wenn Frauenkörper gar nicht dafür da sind, um Männern zu gefallen und von anderen beurteilt zu werden?“, entgegne ich. „Hm“, überlegt er, „darüber habe ich noch nie nachgedacht – vor allem nicht, wenn man etwas Positives sagt.“ Ich beende das Gespräch mit dem Hinweis, dass sich Frauen auch heute noch viel zu häufig auf ihr Äußeres reduziert fühlen – und der Erkenntnis meinerseits: Vielleicht muss ich noch eins drauf setzen, um die Problematik deutlich zu machen.

Catcalling auf Tinder: Ein Selbstversuch

Schnell ist mir klar: Was Diskreditierenderes und Sexistischeres geht mir nicht mehr über die ­Lippen. Ich muss umdisponieren und wechsle vom Real-Life-Catcalling auf die Dating-App Tinder. Kurz überlege ich, ob ich für den Selbstversuch einen Fake-Account mit falschen Bildern und anderem Namen erstellen soll, merke aber schnell: Wenn ich den Selbstversuch möglichst realitätsgetreu durchziehen möchte, muss ich das mit meinem Namen und meinen Bildern machen. Männer, die sexistische Anmachen von sich geben, verstecken sich schließlich auch nicht hinter einer Fake-Identität. Immerhin scheinen sie sich für ihr Verhalten ganz und gar nicht zu genieren. Tief durchatmen, Account mit echten Fotos erstellen und los geht’s. Wieder frage ich eine meiner Freundinnen um Rat und Tipps, was ich schreiben könnte. Diesmal mit mehr Erfolg: „Hm. Sexistisch sein ist so schwierig, wenn man nicht so erzogen wurde“, überlegt sie und gibt mir dann den Tipp: „Schreib ihnen, dass sie ja eh ganz okay aussehen, aber sie doch mal lächeln sollen.“ Der Klassiker. Nervig – wie auch ihr Leserinnen findet. In unserer missAPP-Umfrage mit 1.038 Teilnehmerinnen häuften sich Kommentare, wie nervig es sei, gesagt zu bekommen, dass man hübscher wäre, wenn man lächelt. „Vielleicht will ich dir nicht gefallen?“, schreibt eine Userin. Schließlich ist es doch niemandes Aufgabe, anderen zu gefallen! Ja, schon klar: Tinder ist der Gipfel der Oberflächlichkeit und Reduktion auf das Äußere. Fair enough, das ist das Prinzip der App. Nichtsdestotrotz gibt es eine Grenze zwischen Oberflächlichkeit und Diskreditierung. „Männer diskreditieren Frauen ja gerne aufgrund ihres Gewichts und ihrer Figur. Was bei Frauen die Figur ist, ist bei Männern vielleicht die Körpergröße. Darauf könntest du bei deinen Anmachen bauen“, gibt mir eine Kollegin einen weiteren Tipp, und ich lege los. „Schaust ja eigentlich eh ganz gut aus, aber lächle halt mal“ und „Dafür, dass du relativ klein zu sein scheinst, siehst du eh halbwegs okay aus“ werden in kürzester Zeit zu meinen Standardsprüchen. Einige reagieren sehr gelassen, tun es mit einem „Haha, danke“ als Kompliment ab und wechseln das Thema. Andere haben das Match mit mir gleich wieder aufgelöst. An dieser Stelle daher: An alle, bei denen ich nicht mehr auflösen konnte, dass ich normalerweise nicht mit diskreditierenden Sprüchen daherkomme: Sorry (vor allem an Claus, 27) – und gut so, dass ihr mich entfernt habt und so nicht mit euch reden lasst! Und vor allem: Redet umgekehrt auch nicht so mit Frauen. Viele finden das nämlich genauso uncool wie ihr.

Einige wenige andere weisen mich für meine Ausdrucksweise in die Schranken. So auch Stefan, 32, mit seiner Antwort: „Sag amal, wie redest’n du mit mir?“ Jackpot, denke ich! Ich löse meine Hintergedanken auf. Vielleicht will sich Stefan, 32, mit mir treffen und ein wenig über Sexismus und Diskreditierung diskutieren. Was wie das langweiligste Tinder-Date in der Geschichte der App klingt, ist in der Tat sehr viel spannender. Gleich zu Beginn stellt Stefan klar: „Ich habe grundsätzlich kein Problem mit einem rauen Umgangston. In diesem Fall habe ich so geantwortet, weil dein Statement eine eindeutige Dominanzgeste war und sich das mit meinen sexuellen Präferenzen leider gar nicht deckt.“ Fair enough. Dennoch hat Stefan auch zu sexistischen Anmachen was zu  sagen: „Ich bin zwei-, dreimal sexistisch angemacht worden – allerdings in Paris. Umgekehrt – also, dass Männer Frauen sexistisch anbaggern, kommt das sicher häufig vor. Ich glaube, es gibt eine Grenze, bis zu der es noch okay ist“, meint er. Wo man die Grenze ziehen muss? Das ist für ihn schwierig zu sagen und er kann dabei nur an seine Erfahrungen in Paris denken: „Mich hat die Gewalttätigkeit der Sprüche, vergleichbar mit einem Counter-Sexismus, ein wenig betroffen gemacht. Aber wie gesagt: Umgekehrt haben Frauen wahrscheinlich schon sehr viele untergriffige Situationen erlebt – vor allem Pariserinnen. Wobei man sagen muss, dass Franzosen sehr sexistisch sein können – im positiven wie im negativen Sinne.“ Ich frage nach, wie man im positiven Sinne sexistisch sein kann: „Wenn sich beide in ihren stereotypen Geschlechterrollen wohlfühlen, etwa durch ein anzügliches Kompliment, das Übernehmen der Rechnung, die klassische Eroberung. Alles in allem muss man sagen: Anmachen, die eher eine abgezirkelte Beleidigung darstellen, sagen mehr über denjenigen aus, der das sagt, als über das Gegenüber“, stellt er klar – und ich stelle nach regem Austausch über Sexismus fest: Das war das spannendste Erste-Date-Gespräch, das ich je hatte.

„Männer überschätzen, Frauen unterschätzen sich eher“

Was nehme ich davon mit? Und warum haben die Männer so reagiert, wie sie reagiert haben? ­Warum sehen manche in aus meiner Sicht verpackten Beleidigungen ein Kompliment? Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Gregor Fauma erläutert: „Zum einen gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen – Männer überschätzen, Frauen unterschätzen sich eher. Zudem ist vor anderen Männern diskreditiert zu werden eher eine Beleidigung als quasi unter vier Augen im Chat. Hinzu kommt: Wenn Männern Catcalling oder sexistische Anmachen widerfahren und sie das nicht als unangenehm empfinden, dann ist das, weil sie genau das auch selber aussenden und sich denken: ‚Da ist doch nichts dabei.‘ Ein klassisches Missverständnis in der Kommunikation: Es positiv meinen – und es kommt nicht positiv an. Das wäre auch ein sehr netter Proof dafür, dass Männer etwas als ein Kompliment meinen, wenn sie Frauen öffentlich hinterherpfeifen, und Frauen verstehen das anders, wobei man natürlich nicht generalisieren kann.“

Grundsätzlich ist es aber schon eher so, dass „Männer es positiv auffassen, wenn sie überhaupt mit Frauen in Kontakt kommen – erst mal egal, auf welche Art und Weise.“ Vielleicht gehen sie daher auch davon aus, dass es bei Frauen ähnlich ist und diese deshalb Catcalling als nicht weiter problematisch sehen – wobei: Ein Unterschied ist mir im Selbstversuch, der natürlich keine wissenschaftlich fundierte Studie darstellt, aufgefallen: Männer wie Stefan, die mich für meine Ausdrucksweise in die Schranken gewiesen haben, waren allesamt über 32; jene bis 25 Jahre haben es häufiger als Kompliment abgetan „Spannend!“, findet auch der Verhaltensforscher. „Da wäre die Bildung natürlich auch sehr interessant. Wer hat sich zu welchen Themen schon Gedanken gemacht und sich schon mal tiefgründig mit sich und der Welt befasst? Wenn man in einer Filterblase und einem Diskurs zu einem bestimmten Thema wie Sexismus steckt, nimmt man das natürlich anders wahr und hinterfragt.“ Und Hinterfragen ist ein wichtiges Stichwort; vor allem das eigene Handeln hinterfragen, denn: „Die Maßstäbe – vor allem auch bei Sexismus – sind dynamisch und ändern sich im Lauf der Zeit. Was in den 80er-Jahren kein Thema war, wurde in den 90er-Jahren Thema und wird jetzt so gar nicht mehr praktiziert. Auch die Sprache verändert sich und es entwickelt sich eine neue Sensibilität gegenüber dem anderen Geschlecht“, sagt Fauma und fügt abschließend hinzu: „Ich gehe auch davon aus, dass sich das Thema Sexismus bei Frauen, die einfach noch häufiger damit konfrontiert sind, in einer anderen Geschwindigkeit verändert als bei Männern. Männer können also oft noch etwas nett meinen, das bei Frauen einfach nicht mehr so ankommt.“ Der kleinste gemeinsame Nenner ist hier: Em­pathie – also überlegen, wie Worte beim Gegenüber ankommen. Es gibt ja nicht umsonst das alte Sprichwort „Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht“. Und als Faustregel: Sexismus und Diskreditierung sind nie gut.