Vergesst alles, was man euch über Dating erzählt hat. Nichts davon ist wahr. So gern wir uns auch als die coolen, fabelhaften Yuppie-Wesen präsentieren, die sich durch Erzählungen von Ausbildung, Job und coolen Hobbys selbst vermarkten: Was unser Gegenüber von uns denkt, können wir nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, weil nonverbale Signale (z. B. Mimik, Gestik, Geruch, Blickkontakt, Körperhaltung etc.) fast alles, was wir sagen, in den Schatten stellen. Sympathie und Glaubwürdigkeit wird laut dem amerikanischen Psychologen Albert Mehrabian gerade mal zu 7 Prozent vom Gesagten beeinflusst: Warum machen wir uns also den Stress und geben so viel auf allgemeingültige Regeln des Dating-Smalltalks? Selbstinszenierung, that’s why! Höchste Zeit also, sich von Dating-Regeln zu verabschieden.

Unsere Autorin wagt den Selbstversuch.

„Dein Kinderwunsch interessiert ihn nicht“

Beim Durchlesen diverser Dating-Tipps könnte man glauben, dass wir zumindest Dating-mäßig immer noch in der Steinzeit leben: „Nicht über die letzte Beziehung reden! Nicht über Sex reden! Dein Kinderwunsch interessiert ihn nicht!“ Es geht um den Schein, nicht um das Sein. Was ja eigentlich kompletter Blödsinn ist – die Maske fällt sowieso irgendwann. Ist es also wirklich schlauer, heikle  Themen, die einen ungeschönten, ehrlichen Blick auf den Charakter und das Wesen eines Menschen ermöglichen, auf die lange Bank zu schieben, um sich dann in einem ernüchternden „Oha!“-Moment wiederzufinden?

Tatsache ist, ein richtiges Date ist manchmal intimer als Sex. Sicher, Sex ist intim, aber miteinander zu reden und herauszufinden, welche Werte und Vorstellungen man teilt – da geht es an die Substanz und darum, zu zeigen, wer man ist. Wenn es stimmt, dass Sympathie vorrangig auf nonverbaler Ebene entschieden wird und unsere pseudo-lässigen Phrasen nicht so wichtig sind: Kann man dann wirklich so viel falsch machen, wenn man bestimmte Dinge anspricht? Ich starte den Selbstversuch – und frage alles, was man bei einem ersten Date nicht fragen sollte. Bei meinem Experiment spielt Tinder eine wesentliche Rolle: Man lernt schnell Leute kennen, kann sich unverbindlich treffen – und wenn’s danebengeht, auch egal.

Mein erstes Date: Moritz, 29, Künstler

Auf seinen Fotos sieht er sympathisch aus, smart und witzig. Nachdem mir Tinder mitteilt: „Yeah, it’s a match! Moritz steht auf dich!“, schreiben wir ein paar Tage hin und her und beschließen, uns zu treffen. Vor unserem Treffen bin ich ziemlich aufgeregt, aber das hält mich nicht davon ab, ihm meine Hardcore-Fragen zu stellen. Wir verstehen uns auf Anhieb, ein netter, entspannter Typ. Ich setze mich, wir bestellen was zu trinken. Nach einer halben Stunde obligatorischem Small Talk beschließe ich, aufs Ganze zu gehen. „Nimmst du eigentlich Verhütung sehr ernst?“ Ich lehne mich vor, schaue ihn kampflustig an. Bin gespannt auf seine Antwort. „Äh, ja, klar?“, sagt er.

Er formuliert seine Antwort als Frage, so, als ob das ganz selbstverständlich wäre. Ich will wissen, ob er konsequent verhütet oder auch mal (besoffen) Ausnahmen macht. „Ich bin da voll vorsichtig. Aber mir fällt auf, dass die Mädels immer nachlässiger werden!“ What?! Wir verlieren uns in einer hitzigen Diskussion, sind aber absolut derselben Meinung: Beim Thema Verhütung gibt es keine Kompromisse. Ich bin beeindruckt und habe das Gefühl, dass das Eis trotz dieses pikanten Gesprächsthemas und der Tatsache, dass wir uns überhaupt nicht kennen, gebrochen ist. „Und wann war dein letzter HIV-Test?“ Er lacht nervös, blickt auf seine Hände, weicht meinem Blick aus. Damit hat er wohl nicht gerechnet. „Vor einem halben Jahr circa.“ „Und?“, frage ich. Er lacht. „Passt alles!“ Na bitte, war doch gar nicht so schlimm. Ich frage ihn, ob ihm dieses Thema unangenehm ist. „Schon komisch, über so was zu reden, aber irgendwie ist es auch echt spannend. Und ein wichtiges Thema ist es ja außerdem, oder? Cheers!“ Wir stoßen an. Bis zwei Uhr sitzen wir noch in der Bar, amüsieren uns prächtig – und vereinbaren ein zweites Date.

Julian (25) lerne ich ebenfalls über Tinder kennen

Wir treffen uns an einem sonnigen Nachmittag, spazieren durch die Stadt, gehen anschließend in ein Café. Ich will wissen, wie meine Fragen ankommen, wenn wir uns nicht im schummrigen Barlicht und hinter Alkohol verstecken können. Next Level Hardcore-Dating! Ich esse normalerweise nicht bei Dates, aber ich habe mir geschworen, über meinen Schatten zu springen, also bestelle ich einen Burger. Während ich meine Pommes genieße, mustere ich mein Date.

Julian ist Student, er wirkt ein bisschen nervös, aber süß ist er. „Sag mal, was hältst du von Feminismus?“ Er lacht. „Wenn du nicht diesen männerhassenden Feminismus meinst, finde ich ihn gut. Gleichberechtigung muss sein.“ Ich frage ihn, was er damit meint. „Na ja, wenn uns Männern unterstellt wird, dass wir Frauen ständig unterdrücken würden. Auch wenn ich diesen Achselhaare-Trend nicht so feiere, finde ich es wichtig, dass Frauen für die gleiche Arbeit gleich viel verdienen.“ Ich muss lachen, sage ihm, dass mir Achselhaare eh auch nicht so gefallen, seine Meinung aber schon. Insgesamt philosophieren wir drei Stunden lang über Frauenrechte und Politik – sicher eines der interessantesten Gespräche, die ich je mit einem Fremden hatte.

Sex beim ersten Date?

Elias (27) kenne ich über Freunde, die uns schon länger verkuppeln wollen. Ich bin gespannt, wie er auf meine Hardcore-Fragen reagiert –und was er unseren Freunden berichtet, puh! Wir treffen uns in einer Bar, smalltalken ein bisschen über den gemeinsamen Bekanntenkreis; ein gutes Einstiegsthema. Dann: „Was hältst du von Sex beim ersten Date?“ Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme. Will keine falschen Signale senden. „Hm. Ich muss sagen, ich finde es schon schön, wenn man sich ein bisschen Zeit lässt. Aber wenn die Stimmung passt, why not?“ Er wirkt entspannt, meine Frage hat ihn offenbar nicht verunsichert, aber er wählt seine Worte sorgfältig – wohl, um nichts Falsches zu sagen. Das schmeichelt mir. Ich frage ihn, mit wie vielen Mädels er schon im Bett war. Er lacht. „Dass ihr Frauen das immer wissen wollt!“ Ich lache nicht. Ich mag keine Verallgemeinerungen. „Na ja, du kannst mich ja auch fragen, wenn du möchtest.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Bier, stellt das Glas ab, wirkt abwesend. Er scheint zu überlegen, ob er jetzt die Wahrheit sagen soll. „Na ja, 70 waren es schon.“ Stille. Ich: „Ha, ha. Cool. Ja, so viele waren’s bei mir nicht.“

Ich befürchte, meine Aussage war zu wertend. Ich entschuldige mich. „Schon gut, ich find’s eh auch viel. Aber wenn man sich das ausrechnet, ich bin seit fünf Jahren Single …“ Wir reden darüber, wie sich die Anzahl der Sexpartner exponentiell zum Alter und zum Single-Dasein in Jahren verändert und welche Rolle Tinder in der heutigen Generation spielt; wir sprechen über unsere letzten Beziehungen und warum immer gesagt wird, dass man da eigentlich nicht drüber reden sollte. Eine schöne Meta-Diskussion, finde ich. „Willst du mal Kinder haben? Ich nämlich schon“, sage ich. Jetzt wäre dann wohl der Punkt erreicht, an dem jeder Typ Reißaus nimmt, oder? Im Gegenteil: „Ja, definitiv. Zwei wären cool. Mädchen und Junge“, sagt Elias gelassen. Tja, so viel also zum Thema „Bloß nicht über den Kinderwunsch reden!“

Dating-Regeln brechen: Mein Fazit

Es gibt weitaus schlimmere Dinge, die man beim ersten Date falsch machen kann, als über den Ex zu reden. Ständig mit dem Handy beschäftigt sein, zum Beispiel. Arrogant oder herablassend zu wirken oder jemandem ständig nach dem Mund zu reden. Ich glaube zwar nicht, dass es völlig egal ist, worüber man redet, aber vielleicht kommt es eher darauf an, wie man über intime Themen spricht. Und klar, man muss auch mit Antworten rechnen, die nicht den eigenen Überzeugungen entsprechen. Aber darum geht es beim Dating schließlich: Herauszufinden, ob man kompatibel ist und sich versteht – verbal genauso wie nonverbal. Vielleicht wird mehr daraus, vielleicht auch nicht. In jedem Fall war’s dann zumindest ein schönes, ehrliches Gespräch. Und das ist ja auch schon sehr viel wert.