Die britische Strategie der „Herdenimmunität“ entpuppt sich als gigantischer Fehler inmitten der Coronavirus-Krise. Nun geht es für Großbritannien nur noch darum, hunderttausende Tote zu verhindern. Allerdings wird die Zeit knapp.

Eine Studie des Londoner Imperial College zur Corona-Strategie legt einen wohl tausendfach tödlichen Fehler der britischen Regierung offen. Die Annahmen bezüglich dem Aufbau einer Herdenimmunität waren völlig falsch, die aktuellen Daten aus Italien zeigten das sehr deutlich. Man sei, heißt es im Papier des Imperial College, nach Studium der Daten aus Italien zum Ergebnis gelangt, dass die Dinge anders liegen als bisher berechnet.

„Chaos-Strategie“ mit katastrophalen Coronavirus-Folgen?

Schon bislang warnten experten inner- und außerhalb Großbritanniens eindringlich vor der „Chaos-Strategie“ der britischen Regierung. Während andere Länder in Europa bereits strikte Ausgangssperren verhängten, fanden beispielsweise am Sonntag in Bath und Liverpool noch Halb-Marathons mit tausenden Läufern statt.

Aus der Studie heißt es nun: „Die Strategie der Abschwächung funktioniert nicht mehr, die einzige Alternative ist die Unterdrückung der Krankheit„. Jetzt scheint es jedoch bereits 10 Minuten nach zwölf zu sein und eine massive Überlastung des britischen Gesundheitssystems sei in den kommenden Wochen wohl kaum noch zu verhindern. Die ursprüngliche Strategie der Herdenimmunisierung, also der ungehemmten Verbreitung des Virus, würde, wie nüchtern in dem Papier steht, zu hunderttausenden Todesfällen führen, selbst dann, wenn es gelänge, besonders gefährdete Gruppen zu isolieren.

Coronavirus in GB: Plötzlich kommt alles anders

Auf den Empfehlungen der Studie fußt nun die abrupt geänderte Strategie, die das offizielle London laut zahlreichen Medienberichten in den kommenden Tagen und Wochen umzusetzen gedenkt und die in vielfacher Hinsicht dem Weg ähnelt, den anderen Staaten in Europa längst eingeschlagen haben: Premier Boris Johnson verkündete erste Maßnahmen, die allerdings vorerst nur als dringende Empfehlungen, nicht als Gesetze formuliert sind: darunter Heimarbeit für jene, die diese verrichten können, und die Empfehlung für Menschen über 70, Schwangere und Menschen mit Vorerkrankungen, sich so gut wie möglich zu isolieren. Statt wie bisher sieben Tage zu Hause zu bleiben, sollen Menschen mit Corona-ähnlichen Symptomen nun 14 Tage aus der Öffentlichkeit, und mit ihnen alle, die im gleichen Haushalt wohnen. Schulen und Universitäten bleiben jedoch noch geöffnet.

Die Regierung entfernt sich damit komplett von jenem abstrusen Plan, der noch vergangene Woche von führenden Beratern des Premiers verkündet worden war: vorerst wenig zu tun, um so die Immunität in Teilen der Bevölkerung zu erreichen, und dann, bei weiterer Ausbreitung der Krankheit, besonders gefährdete Teile der Bevölkerung zu isolieren.

Nur 6,6 Intensivbetten je 100.000 Einwohner

Ob die 180-Grad-Kehrtwendung noch funktionieren kann, ist freilich äußerst fraglich: Positiv getestet wurden in Großbritannien zwar mit Stand Dienstagnachmittag erst 1.543 Personen – schon vergangene Woche schätzten Gesundheitsbehörden die Dunkelziffer aber auf über zehntausend, auch, weil Großbritannien neben den USA das Land ist, das bislang am wenigsten Menschen getestet hat.

Der marode Zustand des Gesundheitssystems NHS sorgt für zusätzliche Sorge. Großbritannien stehen nach etlichen Sparprogrammen der Vergangenheit nur noch 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner zur Verfügung. Zum Vergleich: Österreich zählt rund 23.